Predigt am IV. Tolkientag

Von Matthäus zu Tolkien

Bereits zum zweiten Mal war die Martin-Luther-Gemeinde in Hannover-Ahlem Gastgeberin für den hannoverschen Tolkientag. Da gehört es für die Hannohirrim natürlich zum guten Ton, auch den Sonntagsgottesdienst zu besuchen. Und der bot einen ganz besonderen Höhepunkt: eine Tolkien-Predigt! Wie man eine Brücke vom Evangelisten Matthäus zu J.R.R. Tolkiens "Herr der Ringe" schlägt, lässt sich hier nachlesen...

Pastor Manuel Kronast am 17. Sonntag nach Trinitatis, Evangelium: Matthäus 15, 21-28 - in der Martin-Luther-Kirche zu Hannover, IV. Tolkientag Hannover

Liebe Gemeinde,

die Geschichte von der kanaanäischen Frau - wir haben sie vorhin gehört - sie beeindruckt mich immer wieder. Gerade weil sie so anders ist.

Sie erzählt von einem Jesus, der lernen muss. Nicht von einem unfehlbaren Gottessohn. Das kann irritieren. Denn was ist das für ein Jesus? Warum grenzt er so scharf aus? Wo ist der Jesus, der Grenzen überschreitet und denen die Hand gibt, die auf der anderen Seite stehen. Der Jesus hier verteidigt zunächst einmal die Grenzen. Er muss überredet werden. Das klappt - und gar nicht einmal so sehr durch die Argumentation der Frau, sondern durch ihre Beharrlichkeit. Sie schert sich nicht um irgendwelche Grenzen. Natürlich ist ihr bewusst, dass sie als Kanaanäerin von diesem jüdischen Rabbi nur Ablehnung zu erwarten hat. Sie hat ihre eigene Religion und die Religion der Juden gegen sich. Und trotzdem, so verzweifelt und mutig wie sie ist, nervt sie Jesus so lange, bis er nachgibt. Sie ist für mich eine der interessantesten Frauengestalten der Bibel.

Laut einer Umfrage von vor etlichen Jahren lesen die Deutschen nur ein Buch lieber als die Bibel - Tolkiens "Herrn der Ringe". An den Frauengestalten kann das eigentlich nicht liegen. Denn davon enthält das Buch nur wenige. Aber unter ihnen ist eine Frau, die dieser Kanaanäerin gar nicht so unähnlich ist. Auch wenn sie die Nichte eines Königs ist und Eowyn heißt. Lange Zeit pflegt sie ihren kranken Onkel, bis der auf wundersame Weise geheilt wird. Und nun will sie mehr von ihrem Leben haben. Aber es gibt nicht mehr. Sie hat das Gefühl, dass mehr in ihr steckt als die traditionelle Frauenrolle. Aber die anderen haben dieses Gefühl nicht. Und so ist auch sie in engen Grenzen gefangen und außer ihr scheint niemandem bewusst zu sein, dass das überhaupt Grenzen sind. Als Adlige muss sie sich nicht mit gewöhnlicher Hausarbeit herumplagen, sie soll das Land regieren, während ihr Bruder und ihr Onkel das Heer in den Krieg führen. Keine unwichtige Rolle, aber sie fühlt sich zurückgelassen.

Eowyn begegnet nun Aragorn, dem Nachfahren der alten Könige, einer der großen Hoffnungen der Menschen gegen die Mächte des Bösen. Er ist mit wenigen Getreuen unterwegs zu den Pfaden der Toten, um in einer verzweifelten Aktion Hilfe für das bedrängte Reich Gondor zu holen.

Kurz bevor er losreitet kommt es zu einer folgenschweren Begegnung mit Eowyn:

"Herr", sagte Eowyn, "wenn Ihr gehen müsst, dann lasst mich in Eurem Gefolge mitreiten. Denn ich bin es leid, mich in den Bergen zu verstecken, Gefahr und Kampf will ich ins Auge sehen."

"Eure Pflicht liegt bei Eurem Volk", antwortete Aragorn.

"Zu oft habe ich von Pflicht gehört!" rief sie. "Aber bin ich nicht aus Eorls Haus, eine Schildmagd und keine Kinderfrau? Lange genug habe ich strauchelnden Füßen aufgewartet. Darf ich nicht jetzt, da es scheint, dass sie nicht mehr straucheln, mein Leben so verbringen, wie ich es will?"

"Wenige dürfen das in Ehren tun", antwortete er. "Doch was Euch betrifft, Herrin: habt Ihr nicht die Aufgabe übernommen, das Volk zu führen, bis sein Herr zurückkehrt? Wäret Ihr nicht dazu auserwählt worden, dann wäre irgendein Marschall oder Hauptmann auf denselben Platz gestellt worden, und auch er könnte nicht von seiner Aufgabe wegreiten, ob er sie leid ist oder nicht."

"Soll ich immer erwählt werden?" sagte sie bitter. "Soll ich immer zurückgelassen werden, wenn die Reiter aufbrechen, und mich um das Haus kümmern, während sie Ruhm finden, und für Nahrung und Betten sorgen, wenn sie zurückkehren?"

"Bald mag die Zeit kommen", sagte er, "da keiner zurückkehrt; dann wird Heldenmut ohne Ruhm nötig sein, denn niemand wird sich der Taten erinnern, die bei der letzten Verteidigung Eurer Heimstätten vollbracht werden. Doch werden die Taten nicht weniger heldenhaft sein, nur weil sie nicht gerühmt werden."

Und sie antwortete: "Alle Eure Worte sollen lediglich besagen: Du bist eine Frau, und dein Teil ist das Haus. Aber wenn die Männer in Kampf und Ehre gefallen sind, dann darfst du im Haus verbrannt werden, denn die Männer brauchen es nicht mehr. Doch ich bin aus Eorls Haus und keine Dienerin. Ich kann reiten und die Klinge führen, und ich fürchte weder Schmerz noch Tod."

"Was fürchtet Ihr, Herrin?", fragte er.

"Einen Käfig", sagte sie. "Hinter Gittern zu bleiben, bis Gewohnheit und hohes Alter sich damit abfinden und alle Aussichten, große Taten zu vollbringen unwiderruflich dahin sind und auch gar nicht mehr ersehnt werden."

Anders als die Kanaanäerin hat Eowyn keinen Erfolg. Aragorn nimmt sie nicht mit, er verweist sie auf ihren Platz. Die Grenzen bleiben stabil. Doch Eowyn verkleidet sich als Soldat und mischt sich unter das Heer ihres Onkels, reitet mit aufs Schlachtfeld. Und dort erschlägt sie den Anführer der Nazgul, den schrecklichsten Diener des Bösen. Dem wird zum Verhängnis, dass er ebenfalls in engen Grenzen denkt. Er verlässt sich auf eine Prophezeiung, dass er von keinem Mann getötet werden kann. So stirbt er von der Hand einer Frau, die dabei Hilfe hat von einem Hobbit, der aufgrund seiner Körpergröße ebenfalls nicht als Mann zählt. An dieser Stelle hat das Schicksal bei Tolkien eindeutig Humor.

Und Tolkien lässt nicht nur hier eine grundlegende Ordnung durchschimmern, die man vielleicht Schöpfungsordnung nennen könnte. Davor haben alle menschengemachten Ordnungen letztlich keine Bedeutung. Alle wunderbaren Klänge unseres Lebens und alle Misstöne sind nur Nuancen des einen wunderschönen Schöpfungsliedes und sind in ihm enthalten. So können eine Frau und ein Hobbit erfolgreich sein, gegen alle vorherrschende Meinung. Denn in den Augen dieser Welt gehören Frauen an den Herd oder zumindest in das Haus, während Hobbits pfeiferauchende Genussmenschen zu sein haben, die nichts aufregen kann, solange sie nur sechs Mahlzeiten am Tag bekommen.

Auch zur Zeit Jesu bestehen säuberliche Trennungen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Kanaanäern und Juden, zwischen Rabbis und Laien. Trennungen, die immer mit einer Wertung verbunden sind.

Was dabei übersehen wird - auch von Jesus: Diese Trennungen sind menschengemacht. Manche sind sinnvoll, andere nicht - aber sie alle haben keinen göttlichen Ursprung. Das müsste Jesus eigentlich wissen, er selbst predigt es oft genug: Wenn Gott alle Menschen geschaffen hat, dann sind sie auch alle gleich viel wert. Egal, was die Menschen selbst darüber denken.

Das gilt letztlich auch von Eowyns Welt. Tolkien, der sie erfunden hat, war ein gläubiger Katholik. Er hat seine erdachte Welt ausgestattet mit einem eigenen Schöpfungsmythos und mit der grundlegenden Gewissheit: Wie es mit unserem Schicksal und unseren Kräften bestellt ist, das können wir selbst nicht überblicken und schon gar nicht planen.

Dabei ist Tolkien durchaus konservativ - genauso wie die ersten Christen. Er will den alten menschengemachten Ordnungen keine neue menschengemachte Ordnung überstülpen - er ist kein Revolutionär und kein Feminist, er ist ein Erzähler. So beschreibt er einfühlsam die Grenzen menschlicher Kategorien. Und er erzählt, wie Großes entstehen kann, wenn wir im Ernstfall unsere Ordnungen verlassen. Denn was Eowyn macht, ist Fahnenflucht. Sie verweigert sich der Aufgabe, die ihr zugewiesen wurde, lässt ihr Volk führerlos zurück.

Man könnte nun sagen, dass sie egoistisch handelt, dass es ihr nur um eigenen Ruhm geht. Aber das wäre zu kurz gedacht. Sie wird auch nicht einfach nur getrieben von der Verzweiflung über ihr unerfülltes Leben, obgleich an einer Stelle ihr Gesicht beschrieben wird als das "Gesicht eines Menschen ohne Hoffnung, der den Tod suchte."

Der Grund liegt tiefer. Tolkien hat einmal über Eowyn geschrieben, sie sei "wie viele mutige Frauen in einer Krise zu großer militärischer Tapferkeit fähig" gewesen. Vielleicht ist es ihr gar nicht bewusst, aber sie wächst über sich hinaus, um sie selbst zu werden - und um das Richtige für andere zu tun. Denn auch wenn sie alleine aufbricht, nimmt sie dann auf ihren Weg noch den Hobbit Merry mit, der auf ähnliche Weise an den Kategorien der Gesellschaft leidet. Hätten beide getan, was für sie vorgesehen war, die Folgen wären schrecklich gewesen.

In der Krise überschreitet Eowyn ihre Grenzen - ebenso wie die kanaanäische Frau. Beide verletzen dabei die Regeln ihrer Zeit und relativieren sie.

Beide Beispiele sind nicht ohne weiteres auf unsere Zeit anwendbar - wo vieles anders ist, auch die Regeln und Kategorien. Die großen Kategorien scheinen im Schwinden begriffen - aber es gibt auch im Kleinen viele Begrenzungen - in der Clique, am Arbeitsplatz, in einer Kirchengemeinde. Überall gibt es Menschen, die genau wissen, was für andere gut ist - und Ordnungen, die unbedingt befolgt werden müssen. Und so kann der Umgang dieser beiden Frauen mit ihren Grenzen auch heute noch Vorbild sein. Vorbild für uns als Einzelpersonen und als Gesellschaft. Auch die Schubladen, in die wir uns gegenseitig stecken, sie sind von uns selbst gezimmert. Denn Gott hat Menschen erschaffen und keine Schubladen.

Gott hat uns als eine wunderbare Vielfalt erschaffen - und wir selbst machen uns Schubladen, damit diese Vielfalt überschaubar wird. Wir legen fest, was wir von Frauen und Männern, von Menschen unterschiedlicher Religion usw. erwarten können und erwarten wollen. Das ist manchmal nützlich und manchmal lebensfeindlich. Etwa dann, wenn Menschen keinen eigenen Weg gehen dürfen, weil sie in der falschen Schublade stecken...

Deshalb wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der wir Menschen immer wieder unsere selbstgemachten Grenzen in Frage stellen und auch überschreiten können. Und in der möglichst viele ein Gespür dafür haben, dass wir bei aller Vielfalt alle Menschen sind. Gott macht keine Unterschiede, das braucht er nicht.

Aber wir brauchen Menschen wie Eowyn oder die Kanaanäerin, die uns daran erinnern. Damit wir uns selbst nicht zu Göttern machen, sondern diese Aufgabe Gott überlassen (auch darüber könnte man viel bei Tolkien nachlesen!). Wir haben wirklich genug anderes zu tun.

Amen.

Zitate aus: J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe; Stuttgart 1991; S.792 und 810; J.R.R. Tolkien, Briefe, Stuttgart 1991, S.422.