"Endlich wieder normale Leute"

Tolkien Thing 2021 in Lützensömmern

Ja, es wurde auf dem Rittergut im thüringischen Lützensömmern auch über Tolkien geredet. Sogar eine ganze Menge, denn obwohl das Thing-Programm weit weniger umfangreich war als in den letzten Jahren, gab es viele hochkarätige Vorträge rund um Tolkiens phantastische Welt, die man außerhalb der Deutschen Tolkien Gesellschaft so nirgends finden kann. Und dann war da noch Corona.

Fotostrecken vom Thing: Teil I und Teil II

5.-8. August 2021

Von Uli Hacke

Das geschrumpfte Programm bot mit seiner einzigen Zeitschiene den großen Vorteil, dass man nichts verpassen musste, weil womöglich zwei spannende Beiträge gleichzeitig stattfanden. Faszinierend zum Beispiel die Frage, warum Orkisch eigentlich so böse klingt. Das wollte ich auch wissen, musste dann aber bei Tine Mooshammer lernen, dass das gar nicht der Fall wäre und im Vergleich zu Klingonisch eigentlich richtig nett anzuhören sei. Bei dieser linguistischen Lehrstunde ging es in die Vollen: phonetische Grundlagen, Regressionsanalyse… das war schon harter Tobak (aber ein spannender!). Genau so wie meine ersten Ausflüge ins Alt-Englische bei Sophie Lemburg. Verstanden habe ich es zwar kaum, aber es klang großartig und man hätte ihr einfach auch nur zuhören mögen, wie sie aus dem Beowulf vortrug.

Oder: "Fake news in Mittelerde" - das mag reißerisch klingen, war aber ein äußerst gelungener Vortrag von Andreas Zeilinger, der deutlich machte, dass auch Tolkiens Charaktere in Silmarillion oder später im Ringkrieg ihre Gegner mit Lug, Trug und gezielter Desinformation zu täuschen wussten. Laut wurde es bei Raphael Akolyth. Freunde der härteren musikalischen Gangart wissen längst, dass nicht wenige Heavy Metal Bands sich bei ihren Songs der Fantasy bedienten (und dabei auch Tolkien nicht aussparten). Am Ende stand eine starke Playlist und so mancher Fan wird seinen Musikhorizont erweitert haben. Ich zum Beispiel.

Aber auch geistig kommt man auf einem Tolkien Thing nicht zu kurz. Seit langen Jahren ist es Tradition, dass sich Freunde edler Tropfen zusammenfinden und den einen oder anderen Whisky verkosten. Diese Veranstaltung war übrigens auch im letzten Jahr die einzige, die im Rahmen des pandemiebedingten Wegfalls des Thing 2020 doch noch statt gefunden hat: ganz corona-konform via Zoom, den Whisky gab's zuvor per Post. 2021 beginnt das Tasting tolkien-gemäß mit einem englischen Single Malt aus der "Spirit of Yorkshire Destillery" an der Filey Bay. An diesem Strand machte einst Familie Tolkien Urlaub und ein gewisser Christopher verlor dort seinen Spielzeughund - Auftakt für ein phantastisches Abenteuer in einem der "Kleineren Werke". Ob Roverandom dabei möglicherweise auch am "Wasser des Lebens" geschnuppert hat, ist bei Tolkien leider nicht überliefert.

Kernstück eines Things ist natürlich die Mitgliederversammlung (MV) des Vereins, während Vorträge und Workshops genau genommen nur das begleitende Rahmenprogramm darstellen (auch wenn so mancher das genau umgekehrt sehen mag). Die diesjährige MV konnte dank neu errichteter Ritterscheune mit genügend Abstand sauber über die Bühne gehen. Am Ende standen Wahlen an, der erste und zweite Vorsitzende sind die gleichen geblieben und werden ihre wertvolle Arbeit weiter fortführen.

Ob das Thing 2021 überhaupt stattfinden konnte, hing lange Zeit in der Schwebe. Zu unsicher war die Corona-Lage für eine Veranstaltung mit rund hundert Teilnehmenden. Immer wieder wurden Richtlinien und Hygienekonzepte durch die Orga-Gruppe überarbeitet. Ein großes Lob daher an dieser Stelle an all diejenigen, die diese wunderbare Veranstaltung am Ende möglich gemacht haben.

Natürlich war Corona und der Umgang damit das beherrschende Thema. Wie die Impfungen verlaufen sind und ob es Nebenwirkungen gab. Und wie es den Leuten ergangen ist, die sich teilweise zwei Jahre lang nicht gesehen haben. Es ist ein bisschen wie Familientreffen, aber mit dem Unterschied, dass man sich hier die Familie aussuchen kann, während es im richtigen Leben nicht immer ideal laufen mag und die Anschauungen auseinander klaffen. Thing-Teilnehmer oder allgemein DTG-Mitglieder sind dagegen Nerds wie man selber auch. "Endlich wieder normale Leute" - dieser Stoßseufzer stammt von 2. Vorsitzenden Christoph John - ist dann auch das große Credo, welches das Thing so einzigartig macht und die vielen Probleme der Pandemie für ein paar Tage in den Hintergrund rücken lässt.

Und Probleme gibt es überall: die eine hat ihren Job wegen Corona verloren, der andere geht auf dem Zahnfleisch, weil die Kinder heimbeschult oder anderweitig bespaßt werden müsse. Dem nächsten fehlt die Perspektive und eine andere weiß ganz allgemein nicht mehr weiter. Hier zeigt sich das Fandom von seiner ganz starken Seite: lösen kann es all diese Probleme zwar nicht, aber Nähe, Gemeinschaft und Zusammenhalt sind genau die Zutaten, die wir jetzt gerade brauchen. Das Bild der neun Gefährten auf ihrer wagemutigen Queste drängt sich förmlich auf. Es wäre so wunderbar, das Virus einfach in einen Vulkanschlot werfen zu können. Dafür würde man glatt nach Mordor ziehen. So aber ist uns allen der Schwung abhanden gekommen.

Das zieht sich denn auch in die Long expected party - kurz LEP - die als "lang erwartetes Fest" an Bilbos große Geburtstagsfeier in Hobbingen angelehnt ist und bei der sonst dermaßen viel phantasievolles Programm zusammenkommt, dass die nachfolgenden Sendungen meist um ein Zeitalter nach hinten verschoben müssen. Doch die Motivation hat gelitten. Ideen für einen Beitrag hatte es im Vorfeld zwar genug gegeben, aber bei der Umsetzung fiel es schwer, sich dann wirklich aufzurappeln. So war die diesjährige LEP - wen wunderts? - viel ruhiger und ernsthafter als die Jahre davor.

Das begann schon mit Annikas Solo-Gesang "Edge of night" (man erinnere sich an Billy Boyd in "Die Rückkehr des Königs"). Vor dem inneren Auge reiten die hoffnungslos unterlegenen Soldaten von Gondor aus Minas Tirith gen Osgiliath und wissen genau, dass sie den Heerscharen Saurons, die die Stadt am Fluss besetzt halten, nichts entgegensetzen können. Auf der LEP hätte man eine Stecknadel fallen hören können und man mag nicht ausschließen, dass am Ende das eine oder andere Taschentuch gezückt wurde.

Die Moderation durch die Party ist - immerhin das hat sich nicht geändert - zweisprachig und wird alle paar Sätze ins Englische übertragen. Ganz so, als wären die vielen internationalen Gäste wirklich im Saal, die das Thing regelmäßig besuchen. Niemand ist in diesem Jahr aus dem Ausland gekommen. Das ist bitter, weil das Tolkien-Fandom ein globales Phänomen ist und man in Mittelerde - im Gegensatz zu unserer Welt - nicht nationale Grenzen oder angewiesen ist und jede Kultur ihre Daseinsberechtigung hat.

Am Ende ist die Party schneller vorbei als erwartet, doch Gelächter, Applaus und Stimmung sind wunderbar. Schnell sind die Stühle beiseite geräumt und eine Tanzfläche geschaffen. Genau das hat es gebraucht nach eineinhalb Jahren Pandemie, bei dem unsere Akkus gefährlich leer gelaufen sind. Die Bürde aus Abstand, Kontaktbeschränkungen, Verzicht und sozialer Leere ist so schwer geworden, dass man sich sehnlichst jemanden wie Samweis Gamdschie wünscht, Frodos Gefährten und Gärtner - mit seinem beherzten "Ich kann Deine Last nicht tragen, aber ich kann Dich tragen!"

Man glaubt gar nicht, wie viele Gärtner auf einem Tolkien Thing herumlaufen.


Fotostrecken vom Thing: Teil I und Teil II