Weihnachten in Mittelerde

Wie man die Advents- und Weihnachtszeit auf Tolkiens phantastischem Kontinent verbringen kann

Weihnachten und Mittelerde haben mehr gemeinsam, als der erste Gedanke vermuten lässt; fand ich doch einst selbst meine erste Ausgabe des „Herrn der Ringe“ im farblich passenden Pappschuber unter dem Tannenbaum eines längst vergangenen Weihnachtsfestes im letzten Jahrtausend. Geraume Zeit später war die Adventszeit durch heimeliges Beisammensein in dezent verdunkelten Räumen gekennzeichnet, versunken in die Besinnung auf das neueste filmische Dokumentarwerk über den uns vertraut gewordenen Kontinent. Immer mehr unserer treuen Leser haben Mittelerde seitdem einen Besuch abgestattet – manche sind gar Dauergäste geworden. Was läge also näher, im Rahmen des bekannten Reiseführers exklusiv ein Kapitel zu veröffentlichen, welches sich vorrangig mittelerdischen Kurzreisen im Advent, zu Weihnachten und zwischen den Jahren widmet?

Während der eine die Stille und die innere Einkehr am Ende eines hektischen und von Stress geprägten irdischen Jahres sucht, verlangt der andere gerade im Dunkel des ausklingenden Novembers nach lichter Fröhlichkeit und unbeschwertem Feiern. Der eine möchte kulinarische Wintergenüsse ausprobieren und der andere die leise Vorfreude auf Weihnachten genießen. Mittelerde kann all das bieten, auch wenn unser Oxforder Professor es verabsäumt hat, in seiner Welt die offenkundig christlichen Elemente zu verankern, welche für die Positionierung des Weihnachtsfestes vonnöten sind – wir werden sie also selbst mitbringen müssen, wenn wir sie brauchen.

Eine Rundreise durch Mittelerde analog zur irdisch-christlichen Tradition kann ihren Ausgangspunkt in Edoras nehmen. Ein langer, aber gut zu bewältigender Fußmarsch führt an den eindrucksvollen Hügelgräbern der Könige von Rohan vorbei (warme und vor allem windresistente Kleidung wird unbedingt empfohlen). Ein dünner weißer Teppich wie von frisch gefallenem Schnee umgibt diese Stätten; es ist die kleine weiße Simbelmyne, die hier sehr verbreitet ist – oder auch tatsächlich Schnee, was in dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich wäre. Vor allem am späten Nachmittag unseres Ewigkeitssonntags ist dieser etwa dreistündige Fußweg besonders schön, zumal der Rückweg an einer empfehlenswerten Teestube vorbeiführt, die von einer Handvoll unternehmenslustiger Hobbits aus dem Hause Brandybock betrieben wird und die sich rühmen, die eine oder andere Spezialität aus dem Kräuterbuch Meriadocs aufbrühen zu können. Wer sich anderentags mit der Symbolik von Leben und Tod oder längst entschwundener Zeiten tiefer befassen möchte, wagt den steilen und gewundenen Aufstieg nach Dunharg und besichtigt die verwitternden Statuen der Puckelmänner. Hier ist jedoch vor allem bei Glatteis äußerste Vorsicht geboten. Ein Ort mit besonderem Charme für die erste Kerze des (mitgebrachten) Adventskranzes ist das neu hergerichtete Große Tor von Moria im westlichen Schattenbachtal. Wenn das Wetter mitspielt, kann man dem vom Caradhras kommenden Sturzbach in Richtung des Kheled-zâram, dem Spiegelsee, folgen und das Kerzenlicht im Schatten von Durins Stein genießen. Das Tor selbst steht gerade in der Adventszeit stets offen und bietet dahinter in der windgeschützten Halle mit ihren großen offenen Feuern einen behaglichen Raum, wo es sich beim Verzehr gut abgehangenem und exotisch gewürzten Fleisch bei einem frisch gezapften Zwergenmalzbier entspannen lässt. Die Moriazwerge unterhalten auch einen kleinen Weihnachtsmarkt, hauptsächlich mit dem Verkauf handwerklicher Erzeugnisse und bemühen sich, den in letzter Zeit schwächer besuchten Markt durch ein begleitendes Kulturprogramm aufzuwerten. Musikalisch interessierte Besucher sollten vorher das Programm genau studieren, um nicht anstelle des erwarteten elbischen Bach-Chores eine von einem engagierten Nachfahren Balins geleitete Singgruppe mit zwergischer Intonation und Lautstärke zu hören.

Wer über die Adventszeit einen längeren Aufenthalt in Mittelerde plant, kann sich von Moria ausgehend sportlich betätigen: die leise Kritik in der ersten Ausgabe des Reiseführers an der im Entstehen begriffenen zwergischen Wintersportindustrie scheint Früchte zu tragen, denn zwischen Caradhras, Fanuidhol und Celebdil stehen mittlerweile mehrere Skilifte, so dass atemberaubenden Gipfelabfahrten für den geübten Pistenzauberer nichts mehr im Wege steht. Mit etwas Glück hat fährt man vom Rothornpass über kaum bekannte endlose Tiefschneefelder Richtung Lórien ab und genießt traumhaften Pulverschnee.

Aus kulinarischer Sicht darf um den zweiten Advent herum ein Abstecher ins Auenland nicht fehlen. Noch mehr als sonst legen sich hier die Hobbits ins Zeug, wenn es darum geht, den würzigsten Lebkuchenteig zu rühren, den dicksten Stollen zu backen oder die verschiedenen Glühweinbeimischungen zu einem sorgfältig dekantierten und schonend erwärmten Alten Wingert zu versuchen. Die unverbindliche Empfehlung unseres Feldforschers Findegil ist einfach: probieren Sie alles, aber achten Sie auf Ihren Magen. Es kristallisiert sich jedoch heraus, dass es den vermutlich besten Würzwein in Michelbinge in der „Weißfußkate“ gibt, knusprige Spekulatius in Archet und kräftigen Stollen in Wasserau. Im legendären „Grünen Drachen“ lässt sich der Stollen auch gebraten bestellen; eine solchermaßen in Butter, Zucker, schwerem Wingert und zwei bis drei zusätzlichen Dottern geschmorte Scheibe Stollen ersetzt jedoch schnell ein mehrgängiges Abendessen und viele irdische Besucher werden froh sein, anschließend den vorsorglich mitgebrachten Magenbitter zu kosten. Eine Alternative ist der nach uraltem Rezept destillierte Kräutersud „Rachenputzer“ der Brandybocks, der allerdings nicht jedermanns Sache ist.

Die Zeit bis Weihnachten rückt näher und zur Abwechselung stürzen wir uns in das bunte Treiben der Metropole Minas Tirith. An den beiden verkaufsoffenen Adventssonntagen verwandelt sich die Königsstadt in ein Paradies für Schnäppchenjäger, Geschenkesucher oder Anhänger des gepflegten Shoppings. Die mittleren Stadtringe bieten Geschäfte und Boutiquen für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel. Seit jeher ist die Hauptstadt Gondors ein wichtiger Handelsplatz gewesen – für den neugierigen Weihnachtseinkäufer zahlt sich das doppelt aus, denn die Konkurrenz ist groß und die Preise klein. Darüber hinaus sind selbst Waren aus den entlegensten Teilen Mittelerdes in Minas Tirith zu haben. Getrübt werden diese verlockenden Aussichten nur durch die etwas undurchschaubare Finanzlage Mittelerdes; der Umtauschkurs zu Euro oder Dollar wechselt stets und nicht jedes Geschäft akzeptiert Fremdwährung oder gar Kreditkarten. Gute Erfahrungen haben unsere Testkäufer jedoch mit Traveller Cheques gemacht. Nach einem anstrengenden Tag in der City fährt man mit dem Pferdegespann bequem bis in die Nähe der Weißen Halle, legt die müden Füße hoch und genießt den traumhaften Blick über die nächtliche Stadt mit ihren Tausenden Lichtern, weit am östlichen Horizont blinkt das neue Leuchtfeuer von Cirith Ungol. Besonders gut speisen kann man in einer der zahlreichen Filialen von „Denethors Grillstube“ (als Spezialität des Hauses werden die meisten Gerichte flambiert serviert).

Das letzte Wochenende vor dem Fest verbringen wir in der turbulenten Seestadt Esgaroth im hohen Norden. Eine besonders romantische Fahrt dorthin genießen Verliebte im Pferdeschlitten durch die tief verschneiten sanften Hänge der Westfold und der Mark von Rohan. Diese Fahrten lassen sich auch von Deutschland aus über die Deutsche Tolkien Gesellschaft buchen, was empfehlenswert ist, denn die Nachfrage ist groß. Das moderne Esgaroth hat sich seit den Tagen Bards stark verändert, breite Boulevards, großzügige Plätze und eine faszinierend abwechslungsreiche Architektur prägen das Stadtbild. Wie Minas Tirith profitiert auch Esgaroth von seinen Handelsbeziehungen und stellt zum Ende der Adventszeit den größten Weihnachtsmarkt Mittelerdes auf die Beine. Von der Schlemmermeile auenländischer Prägung über den eigens eingerichteten Spielzeugmarkt mit Erzeugnissen aus Thal, dem open-air-Theater der Waldelben und der fröhlich-lauten Hüttengaudi gibt es hier alles, was das Herz des Reisenden höher schlagen lässt. Auch wer zu Hause nicht allzu viel von ausgelassener Gassenhauer-Stimmung hält, sollte die etwas außerhalb in Richtung Erebor gelegenen Gaudis besuchen. Wenn Durin aus Tirol auflegt und das Malzbier in Strömen fließt, hält es keinen Gast mehr auf der Bank. Höhepunkt ist das mitternächtliche Feuerwerk über dem Langen See. Und dass die dafür verantwortlichen Dúnedain ihre pyrotechnischen Künste bei Gandalf dem Grauen erlernt haben, möge nur als weiterer Anreiz dienen, Esgaroth zu besuchen. Seine Lage im Norden garantiert kalte Winter, sicheren Schnee und einen zugefrorenen Langen See, auf dem sich wundervolle Pirouetten auf dem Eis drehen lassen.

Den Heiligen Abend selbst verbringen zwar viele Mittelerdereisenden wieder zu Hause im Kreise ihrer Lieben, aber wer bleiben möchte, kann die Mitternachtsmesse in der Goldenen Halle zu Edoras besuchen. Unter tatkräftiger Mitarbeit irdischer Besucher wird hier ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert, bei dem auch stets Gäste aus allen mittelerdischen Nationen teilnehmen und mitwirken. Im Anschluss trifft man sich vielleicht auf ein gepflegtes Glas Rotwein, feiert mit den engsten Freunden und überreicht das eine oder andere Geschenk. In den letzten Jahren haben sich in den frühen Morgenstunden der beiden Weihnachtsfeiertage immer mehr Besucher im Morgul-Tal eingefunden, um nach einer stillen Kerzenprozession das erste weihnachtliche Licht von den neu errichteten Türmen Minas Ithils aus zu begrüßen. Wer einmal die erhabenen Klänge der bronzenen Posaunen und die ehrwürdigen Gesänge vernommen hat, die sich zunächst unisono in immer weitere Stimmen verzweigen, der wird diesen tief empfundenen Augenblick niemals vergessen.

Auch wenn die Rückkehr aus Mittelerde wie so oft schwerfällt, empfiehlt es sich doch, sie so zu planen, dass noch ein paar Tage Zeit bleiben, um von der fantastischen Welt in unsere alltägliche zu wechseln und die gewonnenen Eindrücke aus Tolkiens Universums in Ruhe noch einmal Revue passieren zu lassen.

Eine wunderbare Zeit in Mittelerde, ein gesegnetes Weihnachtsfest und alles Gute für das neue Jahr wünscht Ihnen der Reiseführer „Pauschalreisen nach Mittelerde“.

Ulrich Hacke