"Die Akte Moria"

Zu Besuch in der Stadt Zwergenbinge

Von Uli Hacke

Tief unter den mächtigen Gipfeln des Nebelgebirges liegt die Zwergenstadt Moria. Ihre Geschichte reicht bis in das Erste Zeitalter zurück. Und die Gemeinschaft des Ringes durchquert Moria auf ihrer Fahrt in Richtung Mordor. Zugegebenermaßen mit Verlusten.

Moria befindet sich nicht nur im Herzen Mittelerdes, sondern steht als Bausatz eines dänischen Steckbausteinherstellers auch irgendwo im hannoverschen Stadtteil Kleefeld auf einem Küchentisch. Liebevoll in Szene gesetzt und aufwändig mit echtem (Teelicht)feuer erleuchtet präsentiert sich die Zwergenstadt in packenden Momentaufnahmen und erzählt ihre spannende Geschichte. Die meisten von uns werden sie in unterschiedlicher Form miterlebt haben:

"...und die Riemen trafen die Knie des Zauberers, wickelten sich herum und zogen ihn an den Rand. Er schwankte und fiel, griff vergebens nach dem Stein und glitt in den Abgrund. "Flieht, ihr Narren!" schrie er und war weg." Legionen von Lesern - so auch ich - haben diese Sätze nur mit äußerstem Unglauben gelesen. Gandalf? In den Abgrund gestürzt und mit Sicherheit tot? Gandalf!? Das konnte einfach nicht sein; nun war mit Sicherheit alles verloren und Mittelerde zum Untergang verdammt.

Nun, die Geschichte lehrt natürlich anderes und Gandalf hat außer ein paar Schrammen und einem dauerhaften Farbwechsel keine bleibenden Veränderungen davon getragen. Die Brücke von Khazad-Dûm wird man dagegen neu errichten müssen, denn die war dank des Balrogs auf ihr und Gandalfs "Du kannst nicht vorbei" über ihr bekanntermaßen den Weg alles Irdischen gegangen. Das ist nicht nur schade, weil sie als wunderschönes und fragiles Bauwerk ohne Frage eine echte Sehenswürdigkeit im Reiseführer "Pauschalreisen nach Mittelerde" abgegeben hätte, sondern auch aus ganz praktischen Gründen, denn mit ihrer Zerstörung gibt es keine Verbindung mehr zwischen der inneren Zwergenstadt und dem Westtor. Allerdings besteht durchaus die Vermutung, dass Moria nach den Wirren des Ringkrieges eine Renaissance erlebt haben mag. Ein Indiz dafür wären die von den Zwergen neu geschmiedeten Tore Minas' Tirith, denn die sollen aus Mithril (oder Wahrsilber) gewesen sein und das hat es nur in Moria gegeben (wobei ein paar Númenorer behaupten, man fände es auch auf ihrer Insel). Vielleicht haben die Zwerge ein paar der weniger von Orks in Mitleidenschaft gezogenen Stollen Morias wieder in Betrieb genommen - es wäre ja nicht der erste Wiederaufbau der Zwergenbinge.

Die Anfänge Morias gehen auf Durin I. zurück. Der Älteste der sieben Zwergenväter errichtete seinen Wohnsitz in Khazad-Dûm, nachdem er lange Zeit allein durch die noch junge Welt Mittelerde gezogen war. Im Schattenbachtal an den östlichen Hängen des Nebelgebirges entdeckte Durin den Kheled-zâram, den Spiegelsee, dessen eiskalte Wasser von einem Sturzbach gespeist werden, der seinen Ursprung irgendwo in der Gipfelregion des berühmt-berüchtigten Caradhras hat. Unabhängig von Tages- oder Nachtzeit offenbart ein Blick in den Spiegelsee anstelle eines Abbildes des Betrachters stets das Firmament eines Sternenhimmels. Durin jedoch soll als Einziger sein eigenes Haupt gesehen haben, umkrönt von einer Lohe reinen Sternenlichtes. Aus heutiger Sicht mag das kitschig klingen - für den Zwergenvater war es jedoch das sicherste Zeichen, den ihm zugewiesenen Platz für seinen Wohnsitz gefunden zu haben.

Die Zwergenansiedlung Moria gedieh prächtig. Zu Beginn des Zweiten Zeitalters stellte sich der wirtschaftliche Aufschwung ein, als die Zwerge in ihren Minen auf Mithril stießen (auch Moria-Silber oder Wahrsilber genannt). Robuster als Stahl und leichter als Seide besass Mithril alle Eigenschaften für einen Exportschlager und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Reichtum und Wohlstand die Zwergenbinge füllten. Doch der gewaltige Boom zeigte schnell seine Schattenseiten; um die gewaltige Nachfrage irgendwie zu befriedigen, stießen die Zwerge immer tiefer ins Gestein vor und missachteten sämtliche Umweltschutzauflagen und Bohrverordnungen. Am Ende weckten sie einen Balrog - und dieser Dämon aus der Alten Welt machte den Zwergen unmissverständlich klar, war er von dieser Störung zu halten gedachte, so dass die Zwerge schnell reichlich dämlich aus der Wäsche schauten, oder tot - oder noch öfter gleich beides.

Gut eintausend Jahre später zog eine große Gruppe zwergischer Exploratoren vom Einsamen Berg Erebor aus wieder gen Moria, um Khazad-Dûm neu zu besiedeln. Nach guten ersten Fortschritten wendete sich das Blatt und die Zwerge kamen sämtlich zu Tode, unter ihnen auch Balin, einer der Gefährten um Bilbo Beutlin auf dessen Fahrt "Hin und wieder zurück". Balin hatte als der Erste seines Namens die Stadt Moria fast fünf Jahre gegen eine orkische Übermacht halten können.

Wie sich das im Einzelnen abgespielt hat, konnte die Ringgemeinschaft im fünften Kapitel des Zweiten Buches der Ringtrilogie quasi aus erster Hand erfahren, denn in der Kammer von Mazarbul finden sie die Tagebuchaufzeichnungen von Balins kleinem Königreich, die von Ori in elbischen Buchstaben zu Papier gebracht worden waren. Doch die literarisch wertvolle Verschnaufspause an Balins Grab währt nur kurz, denn die Ringgefährten werden von Orks und einem Höhlentroll überrascht. Ein heftiger Kampf entbrennt, in dessen Verlauf mehrere Orks getötet werden (im Film auch der Troll), die Gefährten aber nur mehr oder weniger leichte Verletzungen davon tragen. Bei ihrer tollkühnen Flucht durch die Zwergenstadt haben die Gefährten dann leider keinen Blick mehr für die faszinierende Schönheit und gewaltige Komplexität der Zwergenbinge, sondern sind froh, als sie endlich das rettende Tageslicht erreichen - wenn auch in ihrer Zahl leicht um einen Zauberer dezimiert.

Aber daran schließt sich eine andere Geschichte an, die an anderer Stelle erzählt werden soll.