Interview mit Annika

Der Stammtisch wird akademisch und die Hannohirrim feiern eine hervorragend benotete Masterarbeit: Annika hat zum Abschluss ihres Fachmasterstudiums der Geschichtswissenschaft über J.R.R. Tolkiens Erfahrungen im Ersten Weltkrieg geforscht. Glückwunsch, Annika!

Wie fühlt man sich als frisch gebackene Master-Absolventin?

Annika: Erschöpft und erleichtert, ehrlich gesagt. Die Erschöpfung ist natürlich das Erste, was einen nach der Abgabe packt und man möchte wochenlang durchschlafen. Irgendwann begreift man dann, dass es wirklich vorbei ist und dann kommt die enorme Erleichterung. Wenn dann auch noch eine solche Glanznote folgt, ist da erst einmal ein riesengroßes, ungläubiges „Hä?“, das aber nach einiger Zeit von einem breiten Grinsen und hibbeliger Freude ersetzt wird.

Tolkien im Ersten Weltkrieg klingt erstmal nach einem sperrigen Thema. Wie bist Du darauf gekommen und – Hand aufs Herz - ein schönes Thema ist es auch nicht gerade, geht es doch um Verlust, Tod und Kriegsgrauen.

Annika: Ich forsche schon lange zu Tolkiens Leben und Werk. In meiner Bachelorarbeit (2012) habe ich die Ähnlichkeit der Rohirrim zu den Angelsachsen des Hochmittelalters untersucht. Dabei habe ich mich auch intensiv mit Tolkiens Leben und seiner Haltung gegenüber Normannen und Angelsachsen beschäftigt. Das war, glaube ich, das erste Mal, dass ich mich etwas näher mit seinen Kriegserfarungen befasst habe und hatte sofort das Gefühl, tiefer schürfen zu wollen. Im Fachmaster habe ich in mehreren Seminaren und Projekten zum Ersten Weltkrieg gearbeitet; und langsam aber sicher entwickelte sich das Thema meiner Masterarbeit. Es ist wirklich kein schönes Thema, aber ein wichtiges.
Gerade in Deutschland verschwindet der Erste Weltkrieg irgendwie hinter dem Zweiten. In der britischen und französischen Fachliteratur ist es beispielsweise genau umgekehrt. Es war auch das Schwierigste an der ganzen Abschlussarbeit, würde ich sagen. Nicht die Recherche, nicht das Ausformulieren sperriger Gedankengänge und historischer Zusammenhänge, sondern die emotionale Distanz zu einem Thema und einem Menschen zu wahren, die man für eine wissenschaftliche Arbeit braucht. Und Tolkien ist für mich eben nicht irgendjemand. So lange beschäftige ich mich schon mit seinem Leben und seiner Person, mit seinen Interessen und seinem Charakter, dass es mir sehr nahe geht, was er durchgemacht hat. Darüber zu schreiben, wie sehr ihn der Verlust seiner engsten Freund geschmerzt haben muss und wo man diesen Verlust im Werk wiederfindet, war nicht einfach.

Wie lange hast Du denn an der Arbeit gesessen?

Annika: Puh, wenn man wirklich von der ersten Idee bis zur Abgabe zählt, sind es knapp vier Jahre gewesen. Vom Beginn der konkreten Recherche bis zur Abgabe ungefähr drei Jahre und das Konstrukt, das Schreiben, die Arbeit selbst, dauerte knapp ein Jahr.

Und zu welchen Ergebnissen bist Du gekommen?

Annika: Der Titel der Arbeit ist J.R.R. Tolkiens Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und deren Auswirkungen auf sein Werk und die Fragestellung im Zentrum ist im Grunde: Wo finde ich denn Tolkiens Kriegserlebnisse im Herrn der Ringe wieder? Das ist natürlich eine sehr umfangreiche Frage mit noch viel umfangreicheren Antworten. In einer versuchten Kurzform: Ich habe zunächst erforscht, was Tolkien während des Ersten Weltkriegs erlebt hat, wo er sich wann aufgehalten hat, wie er das Erlebte wahrgenommen hat, wie er damit umgegangen ist. Dann habe ich mir den Herrn der Ringe vorgenommen und sehr genau gelesen. Mir waren schon in der Vergangenheit Einflüsse seiner Kriegserlebnisse im Werk aufgefallen, weil ich mich seit einiger Zeit damit befasste. Dem wollte ich dann natürlich auf den Grund gehen und habe eine Menge gefunden.
Diese Analyse habe ich in drei Aspekte gegliedert: die visuellen Beschreibungen (Wo erkennt man den Einfluss der Schlachtfelder der Somme in den Darstellungen?), die emotionalen Eindrücke (Wie nehmen Figuren und Leser den Weltkrieg wahr?) und die politisch-soziale Ebene (Wie wirkt sich der Krieg auf den Einzelnen, die Gesellschaft und die Politik aus?).
Das offensichtlichste Beispiel sind die Totensümpfe, die Frodo, Sam und Gollum durchqueren. Die beschreibenden Passagen lesen sich mit einer unheimlichen Ähnlichkeit zu Beschreibungen des Niemandslandes an der Westfront, wo Tolkien 1916 an der Somme postiert war. Aber auch emotional gibt es enorm viel zwischen den Zeilen zu lesen. Um ein weiteres Beispiel zu nennen, würde ich argumentieren, dass Frodo während und nach dem Ringkrieg an einer post-traumatischen Belastungsstörung leidet, die er nicht überwinden kann, sodass er schließlich das Auenland und Mittelerde verlässt.
Auf gesellschaftlich-politischer Ebene lassen sich noch weitere, viel komplexere Themen aufrollen, eines davon ist die Untersuchung der Schlacht auf den Pelennor-Feldern. Diese Schlacht wirkt auf den ersten Blick recht mittelalterlich, mit ihren Belagerungstürmen und Katapulten, wie man es in einem epischen Fantasyroman eben erwarte. Bei genauerem Hinsehen erkennt man allerdings, dass die Schlacht von moderner Kriegsführung dominiert wird, inklusive Schützengräben und Flammenangriffen.
Wichtig ist bei aller Untersuchung die Erkenntnis, dass es sich bei den Ähnlichkeiten nicht um Allegorien, also direkte Gegenüberstellungen, handelt, sondern vielmehr um Inspirationsquellen und Erlebnisse, die Tolkien auf seine Sekundärwelt angewandt hat. Somit bin ich schließlich zu dem Schluss gekommen, dass Der Herr der Ringe keine reine Realitätsflucht ist, wie es dem Werk oft vorgeworfen wird, sondern eher Tolkiens Art Ver- und Aufarbeitung seiner Kriegserlebnisse.

Nun sind ja schon eine ganze Reihe wissenschaftlicher Forschungsarbeiten veröffentlicht - nicht zuletzt durch die Deutsche Tolkien Gesellschaft. Wie beurteilst Du den wissenschaftlichen Stand der DTG, die ja auch immer wieder mal als "Fantasy-Verein" abgetan wird?

Annika: Eines der zentralen Beschäftigungsfelder der DTG ist Fantasyliteratur und wir sind ein Verein, insofern sind wir auch in dem Sinne schon ein „Fantasy-Verein“. Allerdings ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tolkiens Leben und Werk ebenso im Vereinsleben präsent wie das gemeinsame Erleben des Fandoms in unterschiedlicher Form. Eines unserer Mottos ist da sehr treffend: Literatur – Fantasy – Fandom. Dabei wird jeder Interessensform Raum und Respekt gegeben, das schätze ich sehr. Der wissenschaftliche Stand ist stets aktuell und wird auch international anerkannt. Wir sind eine der wenigen Tolkien Gesellschaften weltweit, die jährlich ein wissenschaftliches Jahrbuch veröffentlichen. Es beinhaltet die Beiträge des jeweiligen Tolkien Seminars, in dem jedes Jahr ein bestimmtes Thema zu Tolkien wissenschaftlich untersucht wird.

Ist Fantasy „wissenschaftstauglich“ geworden? Wo siehst Du das Genre in zehn Jahren?

Annika: Das Schöne an der Wissenschaft, vor allem an geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Geschichte, ist ja, dass man alles akademisch untersuchen kann, dem sind keinerlei Grenzen gesetzt, man muss nur etwas außerhalb der Box denken. Wer will schon die 5000. Abhandlung über Karl den Großen lesen? Es sei denn natürlich, sie bietet neue Ansätze. Die Möglichkeiten in der Fantasy sind endlos, da die Phantasie als solche nicht zu beschränken ist. Momentan lässt sich wieder ein erneutes gesellschaftliches Interesse an Fantasy feststellen, finde ich. Wenn ich mir ansehe, was derzeit so im Kino läuft und noch laufen wird, beispielsweise. Fantasy und Science Fiction überwiegen da fast. Zuerst das neue Aufleben der Comicverfilmungen und Superheldenfilme, nun schwappen langsam, aber sicher auch die Computerspiele auf die Großleinwand. Und auf zahlreichen Conventions wie Ring*Con, HobbitCon, RolePlayConvention und nicht zuletzt die vielen aufkommenden ComicCons in Deutschland gehören wissenschaftliche Vorträge über Fantasy- und SciFi-Themen schon lange fest zum Programm. Ich glaube kaum, dass das in den nächsten zehn Jahren abnehmen wird, im Gegenteil.

Hast Du jetzt erstmal genug von Tolkien?

Annika: Bestimmt nicht. Es gibt so viel über ihn, sein Leben, sein Schaffen und schließlich sein Werk zu erfahren, dass zumindest mir die Forschungsgrundlage nie ausgehen wird. Ich freue mich aber auch darauf, nach so langer Zeit mal wieder Bücher anderer Autoren zu lesen. ;-)

Und wie geht's jetzt weiter nach dem Studium?

Annika: Ich möchte gerne im Museum in der Ausstellungskonzeption arbeiten und verfolge dieses Ziel schon seit einigen Jahren. Die Bewerbungen laufen, nun heißt es warten. Ganz unmittelbar bin ich aber bei einigen Veranstaltungen als Vortragende zum Thema Tolkien im Ersten Weltkrieg eingeladen, mir wird also nicht langweilig!

Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg!