Zehn Stunden Mittelerde
De Online Tolkien Lesetag 2021
Daß irgend etwas nicht in Präsenz sondern online stattfindet, ist in diesen Tagen eigentlich keine Meldung mehr wert. Wenn aber der traditionelle Tolkien Lesetag über zehn Stunden live gestreamt wird (und eine Herzensangelegenheit ist) allerdings schon.
31. März 2021
Von Uli Hacke
Die Älteren unter uns erinnern sich: es gab mal eine Zeit, da traf man sich um den 25. März herum - in Gondor feiern sie an diesem Tag die Vernichtung des Einen Rings - in Buchhandlungen oder irgendwo in der Öffentlichkeit, um gemeinsam ausgewählte Stellen aus Tolkiens Werken vorzulesen. Dicht gedrängt saß man beieinander, schließlich wollte man nichts verpassen. Außerdem war die Atmosphäre bei so einem Lesetag einfach grandios.
Heute haben wir Videokonferenzen, weil wir Abstand halten und uns nicht direkt treffen (irgendwie muß diesem Virus doch beizukommen sein). Und wir haben uns längst daran gewöhnt. Ob es irgendwann-nach-Corona wieder komisch sein wird, mit mehreren Freunde gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und zu plaudern?
Eine solche Plauderrunde gab es zumindest erstmals beim diesjährigen Tolkien Lestag. Neunzig Minuten Podiumsdiskussion, das heißt lockeres Gespräch über "Hoffnung und Mut bei Tolkien" - das Thema des Lesestags 2021. Ein Experiment. Kann das klappen? Es kann - und zwar richtig gut! Zu fünft saßen wir auf dem virtuellen Diskussionspodium und kamen dermaßen ins Plaudern, daß die Zeit unglaublich schnell herum war.
Natürlich sind wir nicht um die Pandemie herumgekommen, denn gerade Hoffnung ist das, von dem viele gerade viel zu wenig haben und die doch so unendlich wichtig ist, um uns durch diese schwierige Zeit zu bringen. Wie geht eigentlich Tolkien mit seinen Charakteren um, woraus schöpfen sie ihre Hoffnung? Da ist zum Beispiel der Hobbit Samweis Gamdschie, der am Paß von Cirith Ungol eben das Ungeheuer Kankra überlebt hat, dann aber feststellen muß, daß er seinen Herrn Frodo verloren hat und er ganz allein ist. Obwohl eigentlich keine Hoffnung mehr da ist, geht er dennoch los und tut das, was getan werden muß. Ist das der Mut der Verzweiflung oder handelt so nur jemand, der nichts mehr zu verlieren hat?
Tolkien hat den Hoffnungsbegriff gegenüber unserer Sprache erweitert und unterscheidet zwei unterschiedliche Arten der Hoffnung: so ist Amdir eine Hoffnung, die auf Wissen beruht, also eine Erwartung, die zwar nicht sicher, aber auf Grund von vorherigen Erfahrungen oder Plänen, wahrscheinlich ist. Estel dagegen ist ein Hoffnung wider aller Vernunft, die auf der Annahme beruht, daß Eru die Welt gut eingerichtet hat - im Prinzip ist das Glauben. Nachzulesen ist das in der Athrabeth Finrod ah Andreth, der Diskussion zwischen dem Elben Finrod Felagund und der Menschenfrau Andreth im zehnten Band der "History of Middle Earth". Estel ist natürlich auch der Name, unter dem Aragorn als Kind aufgezogen wurde und der natürlich die Hoffnung auf ein Ende der Herrschaft Saurons über die Völker Mittelerdes ist.
Es war faszinierend, in der Diskussionsrunde zwischen Literatur und Gegenwart hin und her zu springen. Letztlich, darin waren wir uns einig, ist Literatur - und das muß gar nicht immer Fantasy sein - ein wunderbares Mittel, dem Alltag zu entfliehen, ohne gleich eskapistisch zu sein, sondern vielmehr neue Kraft dafür zu schöpfen, das eigenen Leben zu meistern. Das gilt allgemein für kreative und künstlerische Beschäftigungen, so daß Eskapismus keinesfalls immer negativ zu sehen ist. Tolkien warb für den Eskapismus in der Fantasyliteratur als kreativen Ausdruck der Realität, und C.S. Lewis bemerkte einmal trocken, daß die "Feinde der Flucht" vermutlich Gefängniswärter seien.
Nun: nicht nur mit der höchst anregenden Podiumsdiskussion sondern auch mit den Lesungen, die mit viel Elan und Begeisterung vorgetragen wurden, ist mit dem Online Lesetag eine wahrhaft phantastische Eskapade Wirklichkeit geworden, die für einen Sonntag in Pandemiezeiten der reinste Balsam gewesen sein mag. Zehn Stunden lang, da waren am Ende vor allem die Moderation und die Technik rechtschaffen platt. Aber das war es wert. Oder um zu Meister Samweis zurückzukehren: "Es gibt doch noch etwas Gutes in der Welt, Herr Frodo."