Den Anduin aufwärts

Whisky Tasting auf dem Tolkien Thing

Von Uli Hacke

Natürlich ist es eine Tradition: das fängt schon damit an, dass wir Ort und Zeit ändern müssen. Und dann nicht gleich wissen, wer alles kommen wird. Aber als alter Thing-Veteran sind das alles Dinge, die sich lösen lassen. Am Ende hat jeder ein Glas vor sich stehen und die diesjährige Whiskyreise durch Mittelerde kann beginnen.

Es beginn ganz weit im Süden am Kap von Tolfalas, der großen vorgelagerten Insel in der Bucht von Belfalas an der Mündung des Großen Stroms. Südlicher kann man sich zumindest in Gondor nicht aufhalten. Ein guter Startpunkt also für unsere Tour auf dem Anduin stromaufwärts bis weit in die Grauen Berge (Ered Mithrin). Welche Whiskys werden wir wohl auf den einzelnen Etappen finden? Tipp: das komplette Line-Up aller Whiskys gibt's zum Herunterladen.

Wer auf Tolfalas einen sanften Einsteigerwhisky erwartet hat, muss schon bei der ersten Nase erstaunt die Augenbrauen hochziehen. Das ist... Torf! Neben dem Rauch und den Salznoten der Meeresküste ist sogar etwas geräuchertes Fleisch zu entdecken. Dann wird es doch noch etwas sanft, so als bräche die Sonne durch Regenwolken über einer ostfriesischen Insel durch. Das macht Mut, wir nehmen einen ersten Schluck und haben geschmorte und getrocknete Früchte im Mund, dazu Cremiges wie helle Schokolade, Crème brûlée und Toffee. Der Rauch ist ebenfalls noch da. "Ich wollte gleich zu Beginn einen Akzent setzen und etwas Besonderes ausschenken", sagt Ulf vom Berliner Stammtisch. Das ist ihm gelungen - natürlich mit einem Inselwhisky, in diesem Fall mit dem Ledaig Discovery von der schottischen Isle of Mull.

Weiter geht es in schöne Ithilien - im Ringkrieg zum Ende des Dritten Zeitalters ein strategisch wichtiges Gebiet. Über die Haradstraße kamen aus weit entfernten Landen die Streitkräfte der Haradrim nach Mordor. Auch das Morgultal, eine der beiden großen Verbindungen zum Dunklen Herrscher von Barad-dûr hat hier seinen Eingang. Doch das ist lange her, die Waldelbenkolonie unter Führung von Legolas hat tatkräftig dazu beigetragen, Ithilien wieder zu einem der schönsten Landstriche des Westens zu machen. Unser Whisky greift das mit seinen Obstnoten - vor allem mit süßem rotem Apfel in der Nase - und dem Geschmack von Vanille und Mandeln auf. Lediglich der Abgang, der an die frische Luft in einem Nadelwald erinnert, dürfte noch länger sein. Auch dieser Whisky mit kräftigen 46% kommt aus Schottland. Er ist ausgesprochen jung: die Lochlea Destillery in den Lowlands hat erst 2018 den Betrieb aufgenommen und der "Sowing Edition" ist die erste Veröffentlichung einer jährlichen Limited Edition zu den Jahreszeiten.

"Dreht die Boote, wir haben was vergessen!" kommt plötzlich das Kommando und hunderte Ruderer greifen sofort in die Riemen. Was ist passiert? Anscheinend sind wir im dichten Nebel an der Stadt Pelargir vorbeigefahren und hätten so beinahe den dortigen Whisky verpasst. War womöglich die Reihenfolge der Whiskys während der Vorbereitung durcheinandergeraten? Unwahrscheinlich. Wer schon einmal den Anduin besegelt hat, wird sofort bestätigen können, dass die Navigation auf dem Großen Strom höchst anspruchsvoll ist. Dutzende Hobbits im Hintergrund atmen jedenfalls hörbar auf, als wir in Pelargir anlegen. Direkt an der Einmündung des Sirith, einem der fünf Flüsse des Lebennin, liegt der "Hof der königlichen Schiffe", denn das bedeutet Pelargir im Sindarin. Als Aragorn einst am Stein von Erech das Schattenheer zu den Waffen gerufen hatte, konnte er die Seestreitmacht der Korsaren von Umbar besiegen, die Pelargir eingenommen hatten. Mit einer schlagkräftigen Allianz fuhr in den Anduin bis nach Minas Tirith hinauf und... der Rest ist Geschichte.

Unser Whisky hier kommt von der kleinen Insel Jura schräg gegenüber von Islay und hört auf den schönen Namen "Jura Islanders Expression No. 1 Barbados Rum 2022". Hier geht es um alles, was die Karibik an Düften zu bieten hat: Reichhaltige tropische Früchte, Zitrusfrüchte, Kokosnuss und Vanille. Im Mund verbindet sich all das zu ganz viel Frucht, von Pfirsich bis Banane und von Maracuja und Papaya bis zur Mango. Während die einen diesen Whisky feiern, schauen andere eher wenig begeistert. "Ich hatte mir unglaublich viel davon versprochen, das war mein Favorit", ist Uli vom Stammtisch Hannover enttäuscht, der den Jura-Whisky auch ausgesucht hat. "In welchem Universum ist dieser Abgang reichhaltig und cremig?" fragt er anklagend und mit Blick auf die (offiziellen) Tasting notes. Aber so ist das eben mit dem Whisky - es gibt kein Gut und kein Schlecht und die Geschmäcker sind unglaublich verschieden. Deswegen veranstalten wir ja Whisky Tastings. Und der beste Whisky ist bekanntlich immer "der nächste".

Wir machen einen großen Sprung nach vorne und segeln in einer straffen Etappe bis nach Lothlórien, dem Land der Elben östlich des Nebelgebirges bis weit in die Ebene von Celebrant hinein. Das Kernland zwischen Silberlauf und Anduin ist der Naith von Lórien mit der Stadt Caras Galadhon (Stadt der Bäume), dem Herzen des Elbentums in Mittelerde. In seiner unnachahmlichen Art nennt Baumbart das Ganze laurelindórenan lindelorendor malinornélion ornemalin, in etwa: Das Tal, wo die Bäume in einem goldenen Licht musikalisch singen, ein Land von Musik und Träumen; es gibt dort gelbe Bäume, es ist ein baumgelbes Land.

Hier ist alles ganz anders als bei uns und das gilt auch für den Whisky, der buchstäblich vom anderen Ende der Welt kommt: der "Starward Single Malt Solera" wird tatsächlich im australischen Melbourne destilliert. Das ist dort mit einigen Herausforderungen verbunden: zwar haben die Australier genau wie die Schotten gerne mal alle vier Jahreszeiten an einem Tag. Mit einer südlichen arktischen Brise und nördlichen Wüstenwinden kann das Wetter hier erschreckend turbulent sein. Stark schwankende Temperaturen bedeuten, dass Whisky im Fass härter arbeitet und den Geschmack des Holzes in viel kürzerer Zeit absorbiert. Obstgartenfrüchte, Karamell und Vanille ziehen als erstes in die Nase, im Geschmack finden sich dann viel Karamell, Crème Brûlée, Banane, Feigen und süße Gewürze. Ein langer und voller Abgang setzt dem Ganzen eine Krone auf. "Unser erster Whisky, der die Eintönigkeit meidet", nennen das die Destiller. Die Besonderheit dies Starward ist sein Finish in so genannten Apera-Weinfässern - einer Art Likörwein und im Grunde eigentlich ein Sherry. 2011 entschied man in Australien, sherry-artige Getränke künftig "Apera" zu nennen, u.a. deswegen, weil Sherry eigentlich nur das genannt werden sollte, was aus der spanischen Region Jerez kommt. "Apera" hat seine sprachlichen Wurzeln im "Aperitif" - und das ist oft genug ein Sherry.

Lassen wir J.R.R. Tolkien im "Hobbit" für die nächste Station direkt zu Wort kommen: "Sobald es hell wurde, sahen sie den Wald auf sich zukommen, als ob er sie erwarte - eine schwarze und finstere Wand [..] als ob ein großes Schweigen sie fest umschloss... [und sie] rasteten unter dem gewaltig überhängenden Laubwerk der äußeren Bäume. Ihre mächtigen Stämme waren knorrig, ihre Zweige ineinander verschlungen, ihre Blätter dunkel und lang. Efeu wuchs an ihnen empor und hing bis zur Erde herab."

Der Düsterwald-Whisky ist die erste Fassstärke des Abends und kommt sehr baumisch daher: viel Holz, aber auch Vanille und Kokos mit etwas Zitrus kitzeln intensiv die Nase. Und so geht es auch weiter: ein warmer Holzgeschmack breitet sich im Mund aus. Am Anfang erscheint der Whisky leicht bitter, aber das wir überlagert von Karamell, braunem Zucker, Zimt und Cerealien. Vom Abgang hat man noch lange etwas. Das kann doch kein Schotte sein...? Es wird eine Weile gerätselt, doch auf einen Kentucky Straight Bourbon kommt kaum einer (bis auf einen Zwerg, der aber schon den ganzen Abend mit überaus profunden Kenntnissen geglänzt hatte). Acht Jahre alt ist der Four roses und reifte dabei (natürlich) ein erstbefüllten Fässern aus amerikanischer Weißeiche. Die 1888 in Kentucky gegründete Destille hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Während der Prohibition hatte sie dank der Lizenz zum Vertrieb von "medizinischem" Whisky zeitweise einen Marktanteil von 25%. Der Four roses war der bestverkaufte Bourbon und feierte in Europa und Japan Erfolge - in den USA dagegen galt er lange Zeit als preiswerter Blend mit zweifelhaftem Ruf. Ein Besonderheit sei noch erwähnt: aus zwei verschiedenen Getreidemischungen und fünf unterschiedlichen Hefen werden bei Four roses zehn Whiskeys gebrannt, die anschließend getrennt voneinander lagern (alle auf einer Ebene) und am Ende zu dem vermählt werden, was wir hier im Schatten des Düsterwaldes verkostet haben.

Das vorletzte Etappenziel kündigt sich bereits viele Kilometer vorher an, ein lautes und vielstimmiges Summen wie von unzähligen Elektromotoren ist zu hören. Sobald wir die Stromschnellen des Carrock bezwungen und einen sichern Platz um Anlegen gefunden haben, erkennen wir auch seine Herkunft. Beorns Bienenvölker sind fleißig bei der Arbeit, der Luftraum über den blühenden Wiesen ist heillos überfüllt. Erst als ein gewaltiger Bär ein wenig für Ruhe gesorgt und eine Art Korridor für uns geschaffen hat, können wir Beorns Heimeliges Haus betreten. Höchstpersönlich schenkt er uns den Whisky ein. Und der hat es in sich: kraftstrotzende 58,1% Volumen lassen den einen oder anderen Hobbit je nach Veranlagung ängstlich oder selig gucken. Honig und Obst sind die vordringlichsten Noten, es folgen rote Beeren, etwas Haselnuss, Zimt und Gewürze. Man mag gar nicht mehr aufhören zu schnuppern. Der erste Schluck ist wirklich stark. Doch dann vermengt sich alles zu einem wilden Wirbel aus Honig, gebräuntem Demararazucker und Mokka. Spätestens jetzt greift auch der elogierte Elb zur bereitliegenden dunklen Schokolade mit extra viel Kakao. Ein herrlicher Abgang mit Toffee, Pflaumennoten und dezenter Würze schließt den Whisky ab. Ob es davon noch mehr gibt? Man beginnt zu verstehen, warum damals Bilbo und Gandalf auf ihrem Rückweg vom Einsamen Berg in Richtung Auenland so viele lange Wochen bei Beorn geblieben sind.

Im richtigen Leben hätte Beorn den "Glenallechie Cask Strengt Batch 9" ausgeschenkt. Zehn Jahre alt ist der schottische Speyside-Whisky, der in unterschiedlichen Fässern - Pedro Ximénez-, Oloroso, Virgin Oak, Rioja - ausgebaut wurde. Seit 2017 fährt die Destille einen neuen Kurs. Vier Millionen Liter hat sie früher produziert, hauptsächlich für Blends. Jetzt werden (nur) noch 800.000 Liter destilliert und man produziert lieber Single Malts oder konzentriert sich auf limitierte Spezialabfüllungen.

Unser endgültiges Ziel liegt im Norden: ein gewaltiges Gebiete erstreckt sich über 300 Meilen vom Nebelgebirge bis hin zu den Ausläufern des Erebor, des Einsamen Berges. Die Rede ist natürlich von den Ered Mithrin, den Grauen Bergen mit ihrem östlichen Pfeiler Gundabad, in dessen Windschatten wir uns einen Rastplatz suchen. Einst leben hier Tausende von Orks, doch seit der Schlacht der Fünf Heere kann man sich hier gefahrlos aufhalten. Aus der Ferne klingt leise das Tosen des Grauquells herüber, der etwas eine Wegstunde unterhalb unseres Lagers in den Anduin einmündet. Es ist kalt geworden. Aus den Whiskygläsern steigt uns ein knackiger Duft aus getorftem Malz, Zitronenöl und Lakritz in die Nase. Manch einer fühlt sich auch an den Beginn der Reise erinnert und riecht die Gischt von der See. In Sachen Stärke steht dieser Whisky dem aus Beorns Hause nur wenig nach, 57.1% sind herrlich kräftig und erschließen im Mund einen Mix aus Torfrauch, gesalzenem Karamell und süßer Gerste. Auch kräutrige Noten lassen sich schmecken. Der Abgang ist lang und besteht aus Gewürz, Rauch und Sternanis.

Und was ist das in unserer Welt? Ulf löst auf: der "Port Askaig Cask Strength 100° Proof" kommt von der schottischen Insel Islay (wer mit der Fähre nach Islay kommt, landet entweder im Süden in Port Ellen oder eben im Osten in Port Askaig gegenüber von Jura). Ziemlich in der Nähe befindet sich die Destille Caol Isla und von dort stammt auch der abgefüllte Whisky, wobei die neue "Port Askaig"-Range insgesamt Whiskys aus drei verschiedenen Destillen umfassen soll - eine davon ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Bunnahabhain.

Die Thing-Location für unsere Tasting riecht derweil wie ein Warehouse, in dem die Engel nach dem ihnen zugestandenen "angels share" die Spundlöcher nicht richtig verschlossen haben. Die Stimmung ist hervorragend, nur leider auch so laut, dass man beim besten Willen nicht mehr verstehen kann, was am anderen Ende des Tisches gesprochen wird. Mit dem offiziellen Ende der "Anduin-Bootstour" verabschiedet sich das Whisky-Team und dankt für das große Interesse. Langer Applaus und viel Dank zeigen uns, dass wir bei der Auswahl der Whiskys ziemlich richtig gelegen haben. Das ist für uns der schönste Lohn. Und beim nächsten Mal, so verspricht man uns, wird auch wieder alles viel besser. Wie immer, Tradition eben. Ein letzter Tropfen ist noch im Glas: "Slainté! Auf den Professor!"