Fanfiction als alternative Erzählkultur - ein Überblick

Vortrag zum Tolkien-Tag Hannover, 22./23. Oktober 2005 (erweitert)

Von Stephanie Dorer

Eigenheiten der heutigen Fanfiction

Die Motivation zum Schreiben von Fanfiction ist sehr breit gefächert und kann individuell sehr unterschiedlich sein. Viele Fanfiction-Autoren berufen sich vor allem auf die eigene Freude am Schreiben, ohne sich allzu sehr um formale Fragen zu kümmern. Die ersehnte Zugehörigkeit zu einer gleich gesinnten Gemeinschaft, die intensivere Nähe zu einem bevorzugten Charakter, zu einem Originalwerk und seiner Welt oder zu einer Handlung und der immer wieder zu beobachtende Wunsch nach möglichst vielen "Reviews", also (anerkennenden) Kommentaren von Lesern, lassen jedoch oft den Eindruck entstehen, dass weniger die fundierte Auseinandersetzung mit dem Originalwerk zählt, als vielmehr die möglichst schnelle Breitenwirkung der eigenen Geschichte. Und genau das bedeutet, dass allzu häufig die Qualität und damit die Überzeugungskraft der Geschichten zu wünschen übrig lässt, die ja doch immer wieder dem Vergleich mit dem Originalwerk standhalten muss.

Dazu kommt, dass auch die Leser sich nur oberflächlich mit einer solchen Geschichte auseinandersetzen, was wiederum zu lapidaren und nichtssagenden Kommentaren führt.

Für eine Fanfiction-Autorin, die eine ernsthafte und qualitative Auseinandersetzung mit dem Originalwerk und ihrer eigenen Geschichte sucht, bedeutet das Schreiben solcher Geschichten keineswegs bloßes Vor-sich-Hinfabulieren über den Lieblingscharakter oder das Lieblingsbuch im Sinne einer rein persönlichen Selbstverwirklichung und des eigenen Hineinversetzens in die Geschichte. Letztendlich verfolgt auch die Fanfiction-Autorin mit ihren Geschichten dieselben Ziele wie professionelle Autoren: eine entsprechend große Leserschaft sollte sich mit ihrem Werk identifizieren, es nachvollziehen und sich davon überzeugen lassen können und gleichzeitig soll das Originalwerk nicht dahinter verblassen oder entwürdigt werden.

Und die Leserschaft reagiert ebenso kritisch und lässt es sich nicht nehmen, häufig in Kooperationsarbeit (wie Webrings oder Seiten mit Jury-Auswahl, in Foren) die angebotenen Geschichten auf ihre Überzeugungskraft in Hinblick auf Handlung, Charaktere, Erzähl- und Sprachstil und vor allem die kanonische Berücksichtigung des Originaltextes zu analysieren und zur Diskussion zu stellen.

Eine Fanfiction-Geschichte zu schreiben, die solchen Anforderungen genügen soll, erfordert von der Autorin sehr viel Arbeit und Recherche: gerade das Werk Tolkiens bietet uns nur eine scheinbar vertraute Welt einer mythischen Vergangenheit, die eine Autorin sich erst durch akribisches Erarbeiten sämtlicher verfügbarer Texte erschließen kann. Dazu zählen neben dem "Hobbit" und dem "Herrn der Ringe" ebenso weitere Texte wie das "Silmarillion" oder die "History of Middle-Earth". Eine wirklich überzeugende Darstellung dieser Welt Mittelerde – je nach den bevorzugten Schwerpunkten der Autorin – im Sinne der Tolkien’schen Vorlage kann nur erreichen, wer diese Vorlagen auch kennt.

Andererseits arbeitet jede Autorin durch ihre Recherche eine eigene Interpretation des Originaltextes heraus: gerade bei Tolkien gibt es eine Fülle von unterschiedlichen Entwürfen zu Charakteren oder Handlungssträngen, deren Ideen sich hinter den veröffentlichten Ausgaben verbergen und nicht selten erst dann eine vollständigere Interpretation zulassen. Ebenso kann aber auch durch ein individuelles Verständnis der Texte und sogar durch eine unterschiedliche Gewichtung weiterer Entwürfe Tolkiens eine ganz eigene Lösung für die Fanfiction-Geschichte erfolgen.

(Als Beispiel dafür kann meine eigene Geschichte "Emairth" stehen, in der ich einen früheren Entwurf Tolkiens zu Celebríans Tod herangezogen habe. Noch komplexer sind die Möglichkeiten um die Geschichten Celeborns, der je nach Entwurf entweder ein Sinda oder ein aus Aman stammender Teler ist; Marnie legt in "Eiche und Weide" (origianl "Oak and Willow") den ersten Entwurf zugrunde. Ebenso gibt es verschiedene Varianten des "Fall of Gondolin", der von Tehta in "Fehlerhaft und Makellos" (original "Flawed and Fair") verarbeitet wurde.)

Dabei obliegt es der Autorin, die Veränderungen gegenüber dem Original so darzustellen, dass sie das Gesamtgeschehen nicht stören und sich nahtlos einpassen. Das bedeutet, der Blick hinter das von Tolkien beschriebene Geschehen, das Vertiefen der Handlung muss nicht zwangsläufig nur eine einzige Lösung beinhalten. Die Nachvollziehbarkeit der Fanfiction-Geschichten im Sinne des Originalwerkes ist also dabei unerlässlich.

Fanfiction ist eine sehr stark Charakter-zentrierte Erzählkultur und vor allem durch die Jackson-Filme und den dort agierenden Schauspielern gibt es teilweise sehr ausgeprägte Vorstellungen darüber, wie ein Charakter beschaffen ist, wie er aussieht, wie er handelt – was nicht unbedingt mit der Buchvorlage übereinstimmen muss und die Fanfiction eine weitere Teilung in Buch- und Film-relevant erfährt.)

Dies führte andererseits wiederum auch zu einer vermehrten Nachforschung in den Büchern, um herauszuarbeiten, wie sich ein Charakter tatsächlich darstellt: was ist original und was ist Film-Interpretation? (Ein besonders anschauliches Beispiel sind die Charaktere des Legolas, um dessen Haarfarbe sich schon viele Diskussionen rankten und Haldir, der vor allem aufgrund der schauspielerischen Darstellung eine völlig neue Popularität erlangt.)

In dem Moment, wo ein Charakter deutlich von seiner Darstellung im Originalwerk abweicht und nicht mehr darin wieder zu erkennen ist, läuft die Autorin Gefahr, mit ihrer Geschichte nicht mehr zu überzeugen. Die Beispiele dafür reichen nicht nur von unpassenden äußeren Merkmalen über fremdartige Charaktereigenschaften zu unlogischen Verhaltensweisen. Einen sehr großen Bereich nimmt die Sexualisierung der mittelirdenen Welt und ihrer Bewohner ein, wo auch vor den unpassendsten Paaren, ob homosexuell oder unter verschiedenen Völkern und Wesen Mittelerdes nicht Halt gemacht wird.

Mit einer gründlichen Charakterisierung einhergehend ist auch das Vertiefen in die mittelirdenen Lebensweisen, Verhaltensmuster und Denkformen wichtig, sowie die Beachtung der historischen bzw. kulturellen Perspektive, aus der geschrieben werden soll. Elben, Menschen, Hobbits oder Zwerge oder auch Nazgûl unterscheiden sich nicht nur äußerlich voneinander, sondern Tolkien hat jedem seiner Völker eine eigene Geschichte, Kultur und Sprache verliehen. Daraus resultieren wiederum unterschiedliche Gedanken- und Gefühlswelten, eine individuelle Wahrnehmung (zum Beispiel der Zeit) und die jeweilige Interpretation von Ereignissen/Erlebnissen, soziale Ränge und Klassenunterschiede oder die Konfrontation zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit.

Innerhalb der Fanfiction erfolgt eine ähnliche Unterteilung der Werke in Genretypen wie in der üblichen Literaturtheorie. Ob Romanzen, Dramen, Tragödien, Abenteuer, Parodien oder Poesie – die Bandbreite aller erdenklichen Erzähltypen ist sehr groß und wird wiederum je nach ihrem Inhalt mit verschiedenen Ratings versehen, welche die Geschichten im Sinne einer Altersfreigabe einstufen. Diese reichen von Geschichten für Kinder ab fünf Jahren bis zu solchen, die ausschließlich für Erwachsene geeignet sind, da sie über explizite Gewalt- und Sexdarstellungen verfügen und manchmal auch mit einem Passwortschutz gesichert sind.

Eine weitere wichtige Einteilung der Fanfiction neben den Ratings sind die Bezeichnungen für die Nähe der Geschichte zum Original: Kanon, Alternate Universe, Crossover und auch Mary Sue.

Besonders bedeutsam und immer wieder Anlass zu weitläufigen Diskussionen bietend ist die Gegenüberstellung von Kanon und Alternate Universe. Unter Kanon wird nicht mehr nur die Gesamtheit aller im Text vorkommenden Fakten verstanden, sondern dazu gehören Charakterisierung, Handlungsmotivation der Charaktere, ethische Prinzipien etc., die sich möglichst genau an der Vorlage des Originaltextes orientieren, ohne von diesem abzuweichen.

Dem gegenüber stehen die Geschichten des Alternate Universe, in denen bewusst Veränderungen oder neue Elemente eingeführt und dann möglichst nahtlos in die Vorlage eingepasst werden. Diese Änderungen reichen von winzigen Modifizierungen der Original-Handlung bis zur Veränderung der gesamten Mythenwelt. Die Grenzen zwischen Kanon und Alternate Universe sind jedoch fließend, da bei geringfügigen Änderungen nicht unbedingt eine Verschiebung des Sinns des Originalwerkes gegeben sein muss (so zum Beispiel Celebríans Tod in "Emairth"); andere Elemente jedoch das Originalwerk grundlegend anders interpretierbar machen können. (die Veränderung dahingehend, dass zum Beispiel der Ring nicht vernichtet wird.)

Das Crossover bewegt sich noch weiter vom Kanon fort, indem es eine Verbindung zwischen Universen verschiedener Werke (literarisch oder auch historisch) knüpft: in der Geschichte "War Dust" von Ëarmírë findet Maglor sich im Trojanischen Krieg wieder oder in der Parodie "Jenseits von Arda" von Alex taucht Karl Mays Kara Ben Nemsi in Mittelerde auf. Interessant an solchen Crossovers sind die Motivationen der Autorinnen und Autoren, sich auf wesentliche Elemente des Inhalts zu konzentrieren, sie einander gegenüberzustellen und Bausteine verschiedener Mythen somit in einem neuen Licht, aus neuer Perspektive zu betrachten.

Nicht zuletzt möchte ich das Thema der Mary Sue ansprechen. Unter dieser Figur wird im Allgemeinen ein idealisierter, meist weiblicher Charakter zur Identifikation oder Wunscherfüllung der Autorin verstanden – meistens eine junge Frau oder ein Mädchen, das begnadet mit überragenden äußerlichen und inneren Eigenschaften Romanzen oder Abenteuer mit ihren erwählten Helden erlebt. Wie ich bereits in einem früheren Essay ("Mary Sue – zu Recht als Geißel der Fanfiction betrachtet?") versucht habe darzustellen, muss ein neu geschaffener Charakter, der als "original (female oder male) character" bezeichnet wird, nicht zwangsläufig dem verachteten Mary-Sue-Muster folgen. Hintergrund dieser neuen Charaktere ist häufig der Versuch, die bekannte Welt Mittelerde von einem neuen Wahrnehmungsstandpunkt aus zu erfahren oder aber auch die Bedeutung dieser mythischen Welt für die moderne Realität herauszuarbeiten.