Fanfiction als alternative Erzählkultur - ein Überblick
Vortrag zum Tolkien-Tag Hannover, 22./23. Oktober 2005 (erweitert)
Von Stephanie Dorer
Kurzer historischer Überblick
Der Begriff ‚Fanfiction' ist die Bezeichnung für Werke (nicht nur Texte, sondern auch Bilder (hier "Fan-Art"), Animationen, sogar Filme), die von Fans, also Anhängern eines Buches oder Films, einer Serie, eines Musical oder Computerspiels, aber auch zu real existierenden Schauspielern oder Musikern erstellt werden. Diese Werke stellen die Charaktere des Originals in einer neuen, fortgeführten oder sogar alternativen Handlung dar und vertiefen oder verändern die im Original entworfene Welt.
Nun stützt Fanfiction sich grundsätzlich auf ein bereits bestehendes Werk, aber diese Form der Literatur ist keineswegs neu, sondern hat ihre Wurzeln bereits in der Erzähltradition der Antike und besonders des Mittelalters, wo überlieferte und häufig autorenlose Geschichten immer wieder neu erzählt und damit je nach Erzähler verändert oder ergänzt wurden.
(Ein interessantes Beispiel sind Märchen, die generationenlang von Mund zu Mund weitererzählt wurden. Erst als die Gebrüder Grimm diese Märchen schriftlich festhielten und ihnen damit eine feste und per se unveränderliche Form gaben, wurde das fortwährende, sich verändernde mündliche Erzählen mit dem Lesen/Vorlesen eines einzigen, vervielfältigten Textes ersetzt.)
Diese lebendige, stets in Veränderung begriffene Erzählkultur wurde zuerst durch den Buchdruck und dem damit einhergehenden Urheberrecht unterbrochen. Die moderne, richtungweisende Etablierung einzelner Autoren im Rahmen einer gewinnorientierten Ökonomie steht dieser Tradition entgegen - die Unveränderbarkeit eines Werkes (und somit das Recht eines Autors auf Alleinanspruch an seiner Geschichte) ist gesetzlich geregelt und wird bei Verstoß entsprechend geahndet.
Der Amerikaner Henry Jenkins hat in seiner Untersuchung zur Fan-Kultur Ende der Achtziger Jahre ("Textual Poachers: Television Fans and Participatory Cultures") darauf hingewiesen, dass Fanfiction eine Reaktion auf die Tatsache sei, dass zeitgenössische Mythen heutzutage nicht mehr im allgemeinen Besitz des Volkes/der Leser sind, sondern (wirtschaftlichen) Großunternehmen gehören, die den Gesetzen des (Literatur-) Marktes folgen.
Als nicht-kommerzielle Literatur widersetzt die Fanfiction sich diesen Bestrebungen und folgt weder einer Genie-Ästhetik noch dem Schaffen von Texten im Sinne eines Literaturmarktes.
Andererseits ist aber auch innerhalb der Fanfiction eine Art ‚Marktverhalten' zu beobachten: die Tolkien-Fanfiction hatte ihr Hoch während der Film-Releases; Auch die Harry-Potter-Fanfiction erfreut sich derzeit noch immer eines gewaltigen Booms. Tolkien selbst zeigt sich der alten, lebendigen Erzähl-Tradition bewusst, als er in einem Brief (#131 an Milton Waldman) über seine Mythologie schreibt: "The cycles should be linked to a majestic whole, and yet leave scope for other minds and hands, wielding paint and music and drama." ("Die einzelnen Geschichten sollten mit einem majestätischen Ganzen verbunden sein und dennoch Raum für andere lassen, sich in Malerei, Musik und Drama innerhalb dieser Grenzen auszudrücken." - sinngemäße, eigene ÜBerstzung)
Als eine der allerersten Fanfiction-Geschichten gilt "The Siege of Thebes" ("Die Belagerung Thebens") des englischen Mönches John Lydgate, der dieses Gedicht von mehr als 4000 Zeilen als Fortsetzung zu William Chaucers beliebten "Canterbury Tales" (ca. 2500 Zeilen) von 1421 schrieb. Auch Lewis Carrols "Alice in Wonderland" hatte zahlreiche Autoren zu Fortsetzungen veranlasst, ebenso wie Jane Austens "Pride and Prejudice" und ganz besonders die Sherlock-Holmes-Geschichten des Sir Arthur Conan Doyle.
Die Fanfiction aber, wie sie uns heute bekannt ist, wurde nicht nur durch die Entwicklung des Buches zur Massenware im 19. Jahrhundert, sondern vor allem durch das Auftauchen neuer Themen um die Jahrhundertwende um eine fiktive Zukunft mit dem Motto "was wäre wenn" begründet. (Jules Verne, H.G. Wells, später Aldous Huxley u.a.) Zahlreiche Magazine entstanden zu jener Zeit, die Kurzgeschichten zu Fantasy und Science Fiction enthielten und neben namhaften Autoren auch immer mehr junge, unbekannte Autoren anzogen. Die Sammlung der "Amazing Stories", erstmals 1926 herausgegeben, hatte einen maßgeblichen Einfluss auf die ‚Zine'-Kultur und existiert auch heute noch.
Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich rasch entwickelnde Filmindustrie in den USA griff dieses Interesse weiter auf und gipfelte 1967 schließlich in der Serie "Star Trek".
Der Drehbuchautor der Serie, Gene Roddenberry, wie auch Paramount Pictures, welche die Serie schließlich übernahmen, zeigten sich sehr offen den von Fans eingesandten Drehbüchern gegenüber. Es gab strenge Richtlinien, nach denen geschrieben werden durfte; das einzig Ungewöhnliche war jedoch, dass einige der eingesandten Scripts tatsächlich akzeptiert - und verfilmt - wurden, was die Fans einerseits zu weiterem Schreiben anspornte, andererseits die abgelehnten Scripts in zahlreichen neu entstehenden Fan-Magazinen versammelte. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war eine Kurzgeschichten-Sammlung von 1976 mit dem ausdrücklichen Segen Roddenberrys und seiner Anerkennung gegenüber den Bemühungen der Fans im Vorwort.